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Die siebte Verlegung von Stolpersteinen in Speyer fand am 22.10.2024 statt. Die Biographien sind in der Reihenfolge der Verlegung aufgelistet:

 

Biographie Kurt und Walter Goldschmidt - Maximilianstraße 96

Die Biographien der Familienmitglieder Goldschmidt zeigen wie unter einem Brennglas die Verläufe, die ein jüdisches Leben unter dem Nationalsozialismus nehmen konnte – und wie Entscheidungen des NS-Regimes Einfluss auf die weitere Zukunft jüdisch- christlicher Familien hatten. Der aus Frankfurt gebürtige Kaufmann Julius Goldschmidt (1868—1928) ist in erster Ehe mit der gleichfalls jüdischen Eugenie West heimer (1865—1914) verheiratet. Sie führen das Mode- und Putzwarengeschäft West heimer & Cie. in der Maximilianstraße 14. Zwei Kinder kommen zur Welt: Heinrich (1897) und Milli (1906). Milli heiratet einen Nicht-Juden, sie ziehen später nach Augsburg. Noch im Februar 1945 nach Theresienstadt verschleppt, überlebt sie das Lager. Ihr Bruder Heinrich arbeitet jahrelang beim Zirkus. Als dieser mit Kriegsbeginn schließen muss, wird er im nahen Schleusingen/ Thüringen sesshaft. Unter nichtigem Vorwand verhaftet man ihn Ende 1939; nach dreimonatigem Gefängnisaufenthalt wird er Anfang 1940 in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und stirbt dort im September des gleichen Jahres.

Julius Goldschmidt heiratet 1916 die katholische Anna Maria („Lenchen“) Oderbreit (1893—1976), mit der er ab 1922 ein Gemischtwarengeschäft in der Maximilianstraße 8 führt, wo sich heute das Media:TOR befindet. Ihre beiden Söhne Kurt (1917—nach 1996) und Walter (1924—2015) werden katholisch getauft und erzogen. Nach dem Tod des Vaters 1928 muss das Geschäft aufgegeben werden. Die Mutter ernährt die Familie mit Zimmervermietung im Anwesen Maximilianstraße 96, wohin alle im April 1933 gezogen waren. Mitte 1940 heiratet die Mutter ein zweites Mal. Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler 1933 gelten die beiden Söhne als „Halbjuden“. Walter ist deshalb der Besuch von Handelsschule oder Gymnasium verwehrt. Nur mit Mühe gelingt es ihm, eine Lehrstelle als Bäcker zu finden. Durch den mutigen Einsatz des Bäcker- und Innungsmeisters Fleischmann wird er zur Prüfung zugelassen und kann die Lehre mit einem Gesellenbrief abschließen. Danach kommt er in der Militärbäckerei neben dem St.-Guido- 3 Stifts-Platz unter. Walter wird im Frühjahr 1944, da „wehrunwürdig“, zwangsweise zur Organisation Todt eingezogen und muss in der besetzten Normandie Zwangsarbeit unter lebensgefährlichen Bedingungen leisten: Reparatur zerstörter Gleisanlagen, später Schanzarbeiten. Im März 1945 wird er von US-Truppen befreit. Der gelernte Kaufmann Kurt Goldschmidt dient als „Halbjude“ in der Wehrmacht, kämpft in Frankreich und Russland. Er überlebt, heiratet später und bekommt zwei Kinder. Walter Goldschmidt heiratet 1946, arbeitet zunächst in einer französischen Militärbäckerei, später als Angestellter im hiesigen Wasser- und Schifffahrtsamt, danach im Straßenbauamt. Das Ehepaar hat drei Söhne. Nach seiner Pensionierung wird Walter Goldschmidt in Speyer als Hobbyhistoriker bekannt, ist auch vielfach ehrenamtlich engagiert.

Vor dem Haus Maximilianstraße 96 wurden Stolpersteine  für Kurt und Walter Goldschmidt verlegt.

Biographie Hermann, Amalia, Margarethe, und Franz Bonem sowie Flora Süßel - Maximilianstraße 78

Die jüdische Pfälzer Metzgerdynastie ist in Speyer seit etwa 1800 nachweisbar. Metzgermeister Samuel Süßel zieht von Altdorf nach Speyer, wo er 1851 Esther Scharff heiratet. Von ihren neun Kindern werden zwei – Leopold und Maximilian – wiederum Metzger. Samuels Töchter Friederike und Natalie heiraten selbst Metzgermeister. Leopold erwirbt 1886 den schmalen Bau Maximilianstraße 78. Geschächtet wird vor allem im neuen städtischen Schlachthaus (gegenüber der Gaststätte ›Halbmond‹), aber auch in eigenen Räumen. Leopold betätigt sich sozial, engagiert sich auch in der Freien Metzgerinnung. Nach seinem Tod 1925 führt seine Witwe Flora, geb. Cahn, die Metzgerei weiter, dann übernimmt Schwiegersohn Hermann Bonem, Ehemann von Floras Tochter Amalia, genannt Mally. Wie viele Benachteiligungen, Einschränkungen und Anfeindungen die Familie Bonem seit 1933 erfahren muss, ist unbekannt. Am 22. März 1937 veräußern sie Haus und Betrieb an das Metzgerehepaar Theodor Eder. Mutter Flora Süßel zieht wenige Wochen danach zu ihrer verwitweten Tochter nach Mannheim, wo sie im Dezember stirbt. Das Ehepaar Hermann und Mally Bonem war bereits am 30. Mai 1937 mit den Kindern Margarethe(1924—2013) und Franz Leopold (1925—1970) in die USA geflüchtet. In Cincinnati arbeitet Hermann weiterhin als Metzger; 1961 stirbt er. Sohn Franz (USA: Frank) dient als Freiwilliger in einem Infanterieregiment. Von Februar bis etwa August 1945 ist er in Europa eingesetzt, besucht nach Kriegsende auch die elterliche Wohn- und Wirkstätte in Speyer. Leopolds Schwester Mathilde kommt mit ihrem Ehemann in Theresienstadt um. Leopold Süßels jüngerer Sohn Sally Otto (Samuel) stirbt 1935, seine Witwe Tilly kann noch 1940 in die USA flüchten. Beider Töchter Lore und Helga gelangen mit Kindertransporten ins sichere Ausland. Eine weitere Tochter stirbt 1893 als Dreijährige, Sohn Julius fällt 22-jährig 1914 in Frankreich. Lucia/Lucy, die Jüngste, stirbt 96-jährig in den USA. Leopolds Tochter Elisabeth („Elsa“), heiratet 1909 einen Haßlocher Zigarrenhändler. Die Witwe wird 1940 nach Gurs deportiert und 1942 über Drancy nach Auschwitz verschleppt. Beider Tochter Trude Theres (1910—2001) heiratet 1938 und flüchtet im gleichen Jahr nach New York.

Vor dem Anwesen Maximilianstraße 78  wurden für das Ehepaar Hermann Bonem und Amalia, geb. Süßel, ihre beiden Kinder Margarethe und Franz sowie Amalias Mutter Flora Süßel, geb. Cahn, Stolpersteine verlegt.

 

Biographie Eugen, Klara und Nepomuk Blum - Wormser Straße 8

Eugen Blum ist von Beruf Rechtsanwalt. Er ist von 1907 bis 1929 in München tätig, unterbrochen von seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg, dann sechs Jahre lang in Bad Dürkheim bis zum Berufsverbot. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zwang Bürger jüdischer Abstammung im öffentlichen Dienst, ihren Beruf aufzugeben. Antidemokratische Gesetzgebung und Antisemitismus brachten zunehmende Entrechtung und antijüdische Aktionen. Bereits 1933 kam es zu Ausschreitungen. In der Personalakte Eugen Blums blieb eine frühe Schilderung erhalten: Ein Polizeibericht (LASp J3 / 1156 Eugen Blum) vom 25./26. Juni 1933 schildert Ausschreitungen in Bad Dürkheim, denen auch ein jüdischer Metzger sowie drei Sozialdemokraten zum Opfer fielen, wie folgt: Eugen Blum wurde morgens gegen 4 Uhr durch Mitglieder und Anhänger der NSDAP, uniformierte SA- und SS-Leute, Arbeitsdienstfreiwillige und auch Zivilisten aus seiner Wohnung herausgeholt – ohne Haftbefehl – in Schutzhaft genommen, geschlagen mit Schulterriemen und Koppeln, aber auch mit einem schweren Stuhl und derart zugerichtet, dass sie bei der Ankunft im Gefängnis blutüberströmt sofort ins Krankenhaus gebracht wurden. Der Mann wurde unterwegs auf der Straße geschlagen und getreten, sodass er mehrmals zusammenbrach. Beim Eindringen in die Wohnung wurden Türen eingedrückt und Fenster eingeschlagen. Eugen Blum durfte sich nicht einmal anziehen, sondern wurde barfuß im Nachthemd ins Gefängnis geschleppt. Die Angehörigen wurden bedroht und eingesperrt.  Am 8. Juli wird der Rechtsanwalt entlassen, mit der Weisung, sich für einige Zeit von Bad Dürkheim zu entfernen unter Angabe des Aufenthaltsortes und mit der Auflage, sich täglich bei der Gendarmerie zu melden. Mit seiner katholischen Frau Klara, geb. Mosl, lebt er in sogenannter „privilegierter Mischehe“ und entgeht somit der Deportation der Speyerer Juden nach Gurs am 22.10.1940. Er stirbt in Speyer am 18. April 1946 an den Folgen der 1933 erlittenen Misshandlungen, nach Aussagen seiner Verwandten Annamaria, geb. Fendrich, verarmt und krank. Aus dem lebenslustigen Mann, war nach diesen Erlebnissen ein gebrochener Mensch geworden. Seine Frau Klara, geb. Mosl, 1886 geboren, heiratet Eugen Blum 1921. Sie ist Volksschul- und Klavierlehrerin und hält in dieser schwierigen Zeit treu zu ihrem Mann. 1949 stirbt sie in Speyer. Beider Sohn, Johannes Nepomuk Blum (1924—1964), genannt Hans, muss als „Halbjude“ das Humanistische Gymnasium in Speyer verlassen und beendet seine Schulzeit in einer Internatsschule im Schwarzwald. Er wird nach dem Krieg Maschinenbauingenieur bei der AEG in Berlin und zeichnet sich durch Erfindungen mit zahlreichen Patenten aus.

Vor dem Haus Wormser Straße 8 wurden Stolpersteine für Eugen Blum, Klara Blum, geb. Mosl, und Nepomuk Blum verlegt.

Biographie  Ernst Mayer - Schützenstraße 7

Der spätere Speyerer Kaufmann Ernst Mayer wird am 1. November 1875 in Niederhochstadt in der Pfalz als drittes von fünf Kindern des Kaufmanns Sigmund Mayer geboren. Er hat einen Halbbruder, Ludwig, 1869 geboren in der ersten Ehe des Vaters und eine Halbschwester, Hermine (genannt Irma), geboren 1874. Ein weiterer Bruder, Otto, wird 1877 und eine Schwester, Julie, 1878 geboren. Letztere stirbt mit neunzehn Jahren an Lungentuberkulose und ist auf dem Speyerer Jüdischen Friedhof beigesetzt. Sigmund Mayer, geboren 1843, etabliert sich in Speyer mit der Firma „Alex. Mayer, Weinhandlung, Branntweinbrennerei, Liqueur- und Essigfabrik“ in der Schützenstraße 7, benannt nach seinem Vater Alexander Mayer, der bereits in Niederhochstadt eine Brennerei gegründet hatte. Als Kaufmann, Gründer und Ehrenvorsitzender des Pfälzischen Spirituosenverbandes dürfte Sigmund Mayer großes Ansehen genossen haben, auch erwarb er Verdienste in der jüdischen Fürsorgepflege. Aus Erzählungen von Zeitgenossen ist der Name „Schnaps-Mayer“ überliefert, unter dem der Geschäftsmann hier in der Stadt bekannt gewesen ist. Er stirbt im Alter von 82 Jahren und wird ebenso wie seine zweite Ehefrau Bertha, geborene Scharff (1849—1924), auf dem Speyerer Jüdischen Friedhof beerdigt. Bertha stammt aus der Familie Scharff, für deren Mitglieder 2019 in Speyer Stolpersteine verlegt wurden. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1926 übernimmt Ernst Mayer zusammen mit seinem Bruder Otto das Geschäft. Es wird in der Folge als „Alex. Mayer Sohn, Dampf-Branntweinbrennerei, Likör- und Essigfabrik“ bezeichnet. Am 19.10.1929 tritt Otto Mayer per Vertrag aus dem Unternehmen aus; der bisherige Kontorist Philipp Back wird Mitinhaber. Otto folgt mit seiner Frau Mina, geborene Feitel, dem bereits vorher ausgewanderten älteren Halbbruder Ludwig (1869—1930) in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er 1965 stirbt. Beide Brüder sind in Eunice, Louisiana, beerdigt. 1933 übergibt Ernst Mayer die Firma an seinen Geschäftspartner Philipp Back und scheidet mit sofortiger Wirkung aus. Das Anwesen in der Schützenstraße bleibt Eigentum von Ernst Mayer, wird dem neuen Firmeninhaber gegen eine jährliche „Entschädigungszahlung“ zur Nutznießung überlassen und per Vertrag vererbt. Seiner Schwester Irma, die 1897 den Basler Bankprokuristen Raphael Zivi geheiratet hatte und nach dem frühen Tod ihres Ehemannes 1920 nach Speyer zurückgekehrt war, wird ein lebenslanges Wohnrecht im 2. Stockwerk garantiert. Sie wohnt dort bis zu ihrer Emigration nach Basel im Juni 1933. Ernst Mayer lebt nach 1933 an dieser Adresse als „Privatier“. In Familienerzählungen wird er als freundlicher und vor allem den Kindern im Haus zugewandter älterer Herr beschrieben. Im November 1938 werden in der Reichspogromnacht Juden aus ihren Häusern getrieben und misshandelt. Ernst Mayer wird vom 12. bis zum 28. November im Konzentrationslager Dachau interniert. Am 30. November 1938 stellt er bei der Polizei Speyer einen Antrag auf einen Reisepass, um nach Basel in die Schweiz ausreisen zu können. Die rechtzeitige Ausreise, vermutlich zu der Schwester Irma, glückt offensichtlich nicht mehr. Am 22. Oktober 1940 wird er im Zuge der „Wagner-Bürckel-Aktion“ nach Südfrankreich in das Lager Gurs deportiert und von dort im Frühjahr 1941 ins Internierungslager Récébédou verlegt. Dort stirbt er am 7. Februar 1942 und wird auf dem Friedhof Portet-sur-Garonne bei Toulouse beerdigt. Eine Gedenktafel auf dem Jüdischen Friedhof Speyer erinnert an ihn.

Vor dem Haus Schützenstraße 7 wurde  ein Stolperstein für Ernst Mayer verlegt.

Biographie Eugenie und Betty Blum - Landauer Straße 60

Ein Ehepaar baut sich ein Geschäft auf, zieht in die Stadt, unterstützt die Bildung seiner Söhne und Töchter und akzeptiert die nicht-jüdische Partnerwahl sowie die Umzugs- und Auswanderungspläne der vier Kinder. Die Familie erlebt während der Zeit des Nationalsozialismus Entrechtung, Demütigung, brutale Gewalt und Enteignung. Es sind einschüchternde Zäsuren im Lebenslauf, begleitet von Hoffnung und Verzweiflung. Betty Blum wird am 6. März 1882 in Niederkirchen bei Kaiserslautern geboren, wo ihre Eltern Moritz Blum (1850—1919) und Eugenie, geborene Fischel (1857—1934), eine Eisenwarenhandlung betreiben, die von den Großeltern Isac und Marianne Felsenthal gegründet worden war. Eugenie arbeitet im Geschäft ihres Mannes mit. Sie ist ebenso wie ihr Mann auf dem Jüdischen Friedhof in Speyer beerdigt. Betty wächst mit ihrer älteren Schwester Martha (geboren 1878), der jüngeren Lisa (1885) und ihrem Bruder Eugen (1879) auf. Sie ist neun Jahre alt, als die Familie nach Speyer übersiedelt, wo die Eltern das Geschäft in der Wormser Straße 8 eröffnen. Zunächst wohnen die Blums im Geschäftshaus, bis Betty und ihre Mutter 1931 zur Miete in die Villa am Rosensteiner Hang ziehen. Nach Abschluss der Höheren Töchterschule in der Hagedornsgasse zieht es Betty nach England. In London bringt sie den Kindern des Konsuls von Nicaragua Fremdsprachen bei und gibt ihnen Klavierstunden. Nach Speyer zurückgekehrt, übernimmt sie aushilfsweise eine Lehrerstelle in ihrer ehemaligen Schule für Englisch, Französisch, Rechnen, Geschichte und Erdkunde. 1919 stirbt ihr Vater und sie übernimmt die Leitung der Eisenwarenhandlung, die sie äußerst erfolgreich führt. Sie verschafft sich Respekt und wird in der Speyerer Gesellschaft scherzhaft die „Eiserne Jungfrau“ genannt. Vielseitig interessiert und sportlich, engagiert sich die Zigarrenraucherin in der Kommunalpolitik. Sie ist eine selbstbewusste Frau, die weiß, was sie will. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, die christliche Ehepartner geheiratet hatten, bleibt sie ledig. Am 1. Januar 1936 wird das Geschäft „arisiert“. Daraufhin fasst sie den Entschluss, zu ihrer Schwester Lisa nach Ostafrika auszuwandern. Der Reisepass war schon ausgestellt. Zur Ausreise kommt es allerdings nicht mehr, da Betty Blum an den Folgen einer Operation am 18. April 1936 im Jüdischen Krankenhaus in Mannheim stirbt. Bettys Schwester Martha (1878—1960), die den Katholiken Josef Fendrich geheiratet hatte, bekommt zwei Söhne: Walter (1906) und Ernst (1908). Von Ludwigshafen aus wird sie im Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt in Böhmen verschleppt. Sie überlebt die Shoah. 2009 wurde für sie in Ludwigshafen ein Stolperstein verlegt.

Vor dem Haus Landauer Straße 60 wurden Stolpersteine für Eugenie Blum, geb. Fischel, und ihre Tochter Betty Blum verlegt.

Biographie Eugen, Alice und Nina  Roos - Burgstraße 6 (heute Burgstraße 11)

Die Geschichte der Familie Roos in Speyer lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, als der Metzger Nathan May mit seiner Frau Edel Benedict und Sohn Anschel aus dem Elsass einwandert. Gemäß napoleonischem Recht nehmen sie neue Namen an und werden ab 1808 als Jonathan und Amalia Roos in Speyer geführt. Sie haben insgesamt neun Kinder. In der Hundgasse (heute Gutenbergstraße) betreiben sie ein Wirtshaus, das vom jüngsten Sohn des Paares, Moritz, geboren 1812, übernommen wird. Er engagiert sich bereits in der Lederbranche, was für die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Familie bis ins 20. Jahrhundert von Bedeutung sein wird. Bernhard Roos, am 1. Juni 1840 als erster Sohn von Moritz Roos und seiner Frau Louise, geb. Süßel, in Speyer geboren, eröffnet 1864 ein Leder- und Gamaschengeschäft, aus dem sich eine kleine Schuhfabrikation entwickelt. 1869 heiratet er Natalie David. Das Paar bekommt zwischen 1870 und 1879 drei Töchter und drei Söhne. In der Burgstraße 7—8 gründet Bernhard 1910 eine Schuh-/Schäfte- und Gamaschenfabrik. Die Söhne Eugen (1870), August (1874) und Karl (1876) sind als Kaufleute in der Lederbranche tätig und übernehmen die Speyerer Schuhfabrik nach dem Tod des Vaters. Die Urnen von Bernhard (1912 gestorben) und Natalie (1924 gestorben) sind in einem Sarkophag auf dem Speyerer Jüdischen Friedhof bestattet. Die Brüder Roos sind als Fabrikanten wirtschaftlich erfolgreich und wie bereits die vorherigen Generationen gesellschaftlich integriert und hoch angesehen. Die Machtübergabe an die Nationalsozialisten markiert einen entscheidenden Einschnitt für die jüdischen Bürger: Die Geschichte ihrer Firmen und ihre persönlichen Schicksale ändern sich durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik dramatisch. Die Schuhfabrik Roos wird 1935 in eine GmbH unter Leitung des nicht-jüdischen Betriebsleiters Volz umgeformt und dadurch „arisiert“. Die Brüder Roos sind nur noch als Kürzel im Firmennamen erkennbar. 1955, in der Bundesrepublik Deutschland, wird die ‚RoVo GmbH‘ von der Firma Salamander übernommen und in den 1970er Jahren geschlossen. Auf dem Gelände der ehemaligen Firmengebäude befinden sich heute Wohnungen und Garagen. Das Wohnhaus der Familie, die sogenannte Villa Roos, ist erhalten geblieben. Die Lebenswege der Schwestern Roos ähneln sich. Sie heiraten jüdische Geschäftsleute und folgen ihren Ehemännern an deren Wohnorte. Melanies Mann stirbt 1942 in Mainz, sie selbst wird 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie 1943 stirbt. Beider Tochter wird 1942 in das Ghetto Piaski/Polen deportiert und stirbt dort. Der Sohn des Paares, Walter, überlebt die Shoah in Mainz. Lucie und ihr Mann, möglicherweise auch ihr Sohn, flüchten 1939 nach Brasilien, ihre Tochter in die Schweiz, später in die USA und überleben dadurch die Shoah. Karoline, die in die bekannte Münchner Familie Bernheimer geheiratet hatte, flüchtet in die USA und kehrt 1958 nach Europa zurück. Sie stirbt 1973 in München. Die Brüder Karl und August leben in Mannheim. Dort stirbt Karl 1936. August tötet sich 1942 selbst. Für ihn ist im Frühjahr 2024 in Mannheim ein Stolperstein verlegt worden. Eugen heiratet die 1879 in Frankfurt geborene Alice Mayer und hat seinen Lebensmittelpunkt in Speyer. Hier werden drei Kinder geboren: Nina (1903), Madeleine (1905) und Hans-Albrecht (1906). Madeleine heiratet den nichtjüdischen Schuhfabrikanten Louis Schwarz aus Landau, der 1939 stirbt. Sie verehelicht sich ein zweites Mal 1947, nach der Scheidung 1959 nimmt sie wieder den Namen Roos an. 1998 stirbt sie hochbetagt in Landau. Madeleine Roos hat in den 1970er Jahren Speyer besucht und die Gebäude der Schuhfabrik 1978 vor ihrem Abriss noch einmal besichtigt. Hans-Albrecht emigriert 1938 nach Missouri, USA. Nina, nach Zeitzeugenaussagen belastet durch körperliche Gebrechen, bleibt ledig und wohnt mit ihrer Mutter Alice bis zur ihrer Deportation in Speyer. Eugen Roos tritt bereits 1908 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus. 1936 richtet er in Speyer für sich und seine Frau ein Taufbegehren an die evangelische Kirchengemeinde, dem das Presbyterium zustimmt. Nach entschiedener Intervention einer Reihe von Gemeindemitgliedern, die sich gegen die Taufe von Juden wenden und mit Kirchenaustritt drohen, zieht Eugen den Wunsch zurück. Er stirbt 1937 in Ludwigshafen, die letzte Speyerer Wohnadresse lautet Burgstraße 6. Die meisten Speyerer Juden werden am 22. Oktober 1940 zusammengetrieben und nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Alice und Nina Roos, möglicherweise geschützt durch christliche Verwandte, leben noch in Speyer in der Burgstraße bis 1942, dann werden auch sie von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik eingeholt. Alice Roos wird im Juli 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort stirbt sie am 10. Januar 1943. Gemeinsam mit ihrer Mutter wird auch Nina Helena Roos deportiert; am 15. Mai 1944 verschleppt man sie von Theresienstadt nach Auschwitz, wo sie ermordet wird.

Vor dem Haus Burgstraße 11 wurden Stolpersteine für Eugen, Alice und Nina Roos verlegt.

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